Auf der heutigen Kundgebung zum 8. Mai 2022 anlässlich des 77. Jahrestages der Befreiung von Faschismus hat es einen Redebeitrag des AK Distomo gegeben, der sich mit der NS-Zwangsarbeit und der italienischen Militärinternierten befasste. Hier die Rede im Wortlaut von Jan Krüger:
Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung von dem deutschen Nationalsozialismus, der die Welt mit Krieg, Gewaltherrschaft, Mord und Massenvernichtung überzogen hat. Der deutsche Nationalsozialismus führte zu Millionen von Toten und verantwortet insbesondere die Vernichtung der europäischen Juden.
Der 8. Mai war auch die Befreiung für schätzungsweise 13,5 Millionen Zwangsarbeiter*innen, die für den NS-Staat unter menschenverachtenden Umständen arbeiten mussten. Darunter rund 8,4 Millionen Männer, Frauen und Kinder, die aus den besetzten Ländern Europas nach Deutschland verschleppt wurden. In Hamburg gab es während der Kriegsjahre ca. 500.000 Zwangsarbeiter*innen, die in ca. 1300 Lagern über das gesamte Stadtgebiet verteilt waren. Im Kriegsalltag waren sie allgegenwärtig. Die Transporte zu den Arbeitsstätten sowie die erbärmlichen Unterkünfte waren Teil des Stadtbildes und für jeden sichtbar.
Zwangsarbeiter*innen ersetzten die deutschen Männer, die als Soldaten der Wehrmacht Europa überfielen. Die deutsche Kriegswirtschaft wäre ohne den massenhaften Einsatz von Zwangsarbeiter*innen nicht aufrechtzuerhalten gewesen. Alle Bereiche der Gesellschaft profitierten von der Zwangsarbeit. Allen voran die Industrie und die Landwirtschaft, doch auch mittelständische Unternehmen, Handwerksbetriebe, Kommunen, Kirchen und sogar Privathaushalte griffen auf die billigen Arbeitskräfte der NS-Diktatur zurück.
Die Behandlung der Zwangsarbeiter*innen war abhängig von ihrem Herkunftsland. Die Zwangsarbeiter*innen aus Polen und der Sowjetunion wurden besonders menschenverachtend behandelt, ihr Tod wurde nicht nur in Kauf genommen, sondern war beabsichtigt. Eine weitere Gruppe, die besonders unter dem Nationalsozialismus gelitten hat, waren die italienischen Militärinternierten. Ihre Geschichte ist aktuell, denn erst vor 10 Tagen, am 29. April, reichte die deutsche Regierung am Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Klage ein, die die Durchsetzung ihrer Entschädigungsansprüche verhindern soll.
Bis 1943 war das faschistische Italien der wichtigste Verbündete der Nationalsozialisten. Dies änderte sich im September 1943: Nachdem Mussolini abgesetzt und am 8. September 1943 ein Waffenstillstand mit den Alliierten vereinbart wurde, besetzten die Nationalsozialisten Italien. Italienische Militärangehörige, die nicht auf deutscher Seite weiterkämpfen wollten, wurden gefangengenommen, und ins Reich sowie die besetzten Gebiete im Osten abtransportiert und unter unmenschlichen Bedingungen als Zwangsarbeiter eingesetzt. Die über 600.000 Verschleppten wurden alsbald zu sogenannten italienischen Militärinternierten (IMI) erklärt, womit ihnen auch die wenigen Rechte eines Kriegsgefangenen verweigert wurden. Als ehemalige Verbündete wurden die Italiener als „Verräter“ stigmatisiert und waren deshalb besonders schweren Drangsalierungen und Gewalt ausgesetzt. Zwischen September 1943 und Mai 1945 starben mehr als 50.000 italienische Militärangehörige. Sie wurden direkt nach der Gefangennahme von deutschen Truppen ermordet, starben beim Abtransport in die Lager oder infolge der menschenunwürdigen Bedingungen ihrer zwanzigmonatigen Gefangenschaft.
Für ihre Opfer und ihr Leid wurden sie nie entschädigt, ihre Arbeitsleistung wurde nie entlohnt. Erst 1990 mit der Wendekonnten Entschädigungsansprüche überhaupt geltend gemacht werden. Im Kalten Krieg sollte der Frontstaat Deutschland nicht durch Reparations- und Entschädigungszahlungen belastet werden. Es dauerte noch weitere 10 Jahre, bis im August 2000 unter massivem Druck durch Verbände und Regierungsvertreter der USA ein Fonds aufgelegt wurde, der die Zwangsarbeiter des NS-Staats entschädigen sollte. Auch in Italien machten sich die ehemaligen italienischen Militärinternierten Hoffnungen.
Der Fonds wurde von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – kurz EVZ – verwaltet, die zu diesem Zwecke gegründet wurde. Doch die Stiftung schloss die italienischen Militärinternierten aus und verweigerte ihnen somit selbst eine kleine Entschädigung. Und das mit einer hahnebüchenen Begründung, die es in sich hat.
Eine Entschädigung aus dem Fonds wurde ihnen verweigert da sie „normale“ Kriegsgefangene waren, die nicht entschädigungsberechtigt sind. Die Nazis hatten sie allerdings 1943 zu Zivilisten zu sog. Militärinternierten erklärt. Als Zivilisten wären sie damit berechtigt gewesen, Gelder aus dem Zwangsarbeiterfonds zu erhalten. Im Jahre 2000 behauptet die Bundesregierung jedoch, dass die Nazis damals im Jahre 1943 illegal gehandelt haben und die italienischen Zwangsarbeiter somit doch Kriegsgefangene waren. Und ihnen somit keine Entschädigung zusteht.
Serafino Gesparino, der als IMI in Deutschland Zwangsarbeit leisten musste, erklärte am 25. Juni 2002 dazu:
„Die deutsche Entscheidung halte ich für skandalös. Wenn sie uns als Kriegsgefangene behandelt hätten, dann wäre ja alles okay gewesen. Aber sie haben uns nicht als Kriegsgefangene behandelt. Wir waren Sklaven. Daher ist das deutsche Rechtsgutachten, wonach wir keine Zwangsarbeiter waren, nicht korrekt.“
Der Rechtsanwalt Joachim Lau konnte jedoch die Ansprüche der ehemaligen IMIs in Italien durchsetzen. Der römische Kassationshof, das höchste italienische Gericht bestätigte schon im Jahr 2004 die Ansprüche. Trotzdem verweigert Deutschland bis heute die Zahlung an die Opfer und Hinterbliebenen. Allerdings wird von Joachim Lau eine rechtliche Zwangsvollstreckung vor italienischen Gerichten betrieben. Eine Auszahlung ist möglich – auch wenn von deutscher Seite dieses mit allen Mitteln verhindert wird. So wurde am 29. April 2022, also vor 10 Tagen, von der deutschen Regierung eine weitere Klage beim Internationalen Gerichtshof IGH eingereicht. Ziel der Klage ist die Verhinderung der aktuell laufenden Zwangsvollstreckungen von Liegenschaften des deutschen Staates in Italien.
Entgegen der immer wiederkehrenden Behauptung der Bundesregierung, dass das Thema Entschädigung „abschließend geklärt ist“, ist dem nicht so.
Dass die Opfer der NS-Verbrechen den individuellen Klageweg beschreiten müssen, um legitime Ansprüche durchzusetzen, ist eine fortgesetzte Entwürdigung durch die deutsche Seite. Stattdessen sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass Deutschland die Opfer der Verbrechensherrschaft der Nazis freiwillig und großzügig entschädigt, bevor die letzten Überlebenden gestorben sind.
Eine kleine Unterstützung erfahren die ehemaligen IMIs und ihre Hinterbliebenen auch hier durch die „Projektgruppe italienische Militärinternierte Hamburg“. Eine Delegation der ANEI, die Nationale Vereinigung der Italienischen Militärinternierten, besuchte im September 2021 Hamburg. Im Rahmen eines 1-wöchigen Programms gab es zahlreiche Gespräche mit Vertreter*innen der Stadt, Politik und Wirtschaft. Es wurden auch Orte besucht, an denen italienische Militärinternierte (IMI) als Zwangsarbeiter leben mussten. So u.a. die Sternwoll-Spinnerei, das IMI-Lager in der Schule Schanzenstrasse und das Montblanc-Haus in der Schanzenstrasse, die Elbinsel Kaltehofe und die Lagerhäuser F und G am Dessauer Ufer. Als Ergebnis des Besuchs soll ein Entschädigungsfonds aufgesetzt werden, in den private und öffentliche Unternehmen einzahlen sollen, die von der Zwangsarbeit der IMIs profitiert haben.
Wir fordern
– die Entschädigung der IMIs und deren Hinterbliebenen
– einen würdigen Gedenk- und Dokumentationsort für die NS-Zwangsarbeiter in Hamburg








