Rede Gianni Ruga am 8. September 2023 vor dem Hafenamt

Guten Abend, in den letzten Jahren habe ich begriffen, dass Gefühle wie Rührung, Ergriffenheit, und Mitgefühl intensiv und ohne Hemmungen und Einschränkungen ausgelebt werden müssen. Ich habe diese Gefühle im vergangenen Jahr erlebt, als ich dank euch -von der Projektgruppe IMI in Hamburg 1943-45- zum ersten Mal an den Orten war, an denen mein Vater seine schmerzvollen Monate der Gefangenschaft erlebt hatte. Als ich nach Hamburg abfuhr, war mir bewusst, dass ich mich Momenten innerer Qual und Unruhe stellen musste, aber nachdem ich Sandbostel, Neuengamme und Kaltehofe besucht hatte, wurde mir klar, wie schmal der Grat zwischen dem zivilisierten Menschen und dem unmenschlichen, grausamen Menschen ist. Ich erinnere mich, dass ich, als ich dieses Abenteuer 2019 begann, nie gedacht hätte, dass ich so weit kommen würde. Mit eurer wertvollen Hilfe habe ich das Leben meines Vaters hier in Hamburg rekonstruiert. Die Orte, die ihr mir gezeigt habt, werden in meinem Gedächtnis eingeprägt bleiben, denn sie werden mir helfen, mich an ihn, meinen lieben Vater, zu erinnern.

Nach dieser Vorbemerkung möchte ich Ihnen kurz über die Geschichte dieses Tagebuchs und seines Verfassers berichten: Mein Vater, Marino Ruga, geboren 1920, wurde 1939 zur Wehrdiensttauglichkeitsuntersuchung einberufen und dann im März 1940 zum Militärdienst als Fernmeldetechniker eingezogen. Bei Kriegsausbruch wurde er an die Westfront geschickt und nach Ende des Krieges gegen Frankreich nach Albanien, in die Gegend von Elbasan verlegt. Dort blieb er drei Jahre lang -von Dezember 1940 bis zum schicksalhaften 8. September 1943 – abgesehen von einer kurzen Genesungszeit, die er nach einer Operation zu Hause verbrachte. 

Dies sind einige der Angaben, die ich aus seinem Matrikelblatt des italienischen Militärs entnommen habe, das ich vor einigen Jahren aufgefunden hatte. Tatsächlich erzählte er mir und meinen Brüdern und Schwestern ausweichend, fast verärgert, dass er zuerst nach Albanien geschickt wurde und im September 1943, als er gefangen genommen wurde nach Deutschland verbracht wurde, und dass er, solange er leben würde, niemandem sein Herz öffnen wollte, geschweige denn uns. Nur meine Mutter wusste von seinen Qualen. 

Keiner von uns konnte ahnen, dass er während dieser fünf langen Jahre ein Tagebuch führte, welches erst nach seinem Tod -am 17. Juli 2013- entdeckt wurde. Es war aufbewahrt, versteckt inmitten seiner traurigsten und qualvollsten Erinnerungen. Einige Jahre lang lag das aufgefundene Material verschlossen, fast vergessen in einer Schublade. Dann, im Jahr 2020 – anlässlich der Coronapandemie, die uns für mehrere Monate ins Haus verbannte- beschloss ich es zu transkribieren, um jedem meiner Brüder und Schwestern eine Kopie davon zu geben. Dieses Tagebuch besteht aus drei Heften, die über die Zeit in Elbasan, Albanien berichten, und mehreren mit Heftklammern zusammengehaltenen Blättern, sowie zwei kleinen Heften, die die Zeit der Internierung hier in Hamburg beschreiben. Während der Transkription des Tagebuchs bemerkte ich, dass Vater nie aufgeschrieben hatte, in welchem Stadtteil sich der Ort seiner Gefangenschaft befand.

Die einzige Gewissheit, die ich hatte, war das Unternehmen, in das er zur Zwangsarbeit geschickt worden war. Tatsächlich war er es selbst, der am 18. Oktober 1943 schrieb: „Heute erster Arbeitstag in einer Fabrik der städtischen Wasserwerke, von 8 Uhr bis 17.30 Uhr. Was die Arbeit betrifft, sind die Schwierigkeiten überwindbar, nicht überwindbar sind jedoch..“ Dies steht auf einer einzelnen kleinen Seite, die sicher zu einem vollständigen Heft gehörte, das leider verloren gegangen ist. 

Seit nunmehr drei Jahren widmen meine Frau und ich unsere Freizeit der Erforschung all dessen, was mit der Zeit meines Vaters, die er hier in Hamburg verbrachte, zusammenhängt. Aber wir sind nicht allein, wir haben in der Projektgruppe IMI in Hamburg 1943-45 eine beachtliche und wertvolle Hilfe und in der Geschäftsführung von Hamburg Wasser eine vorbildliche und lobenswerte Bereitschaft gefunden, die mich erfreut und ehrt. Mit ihrer Hilfe habe ich herausgefunden, dass er, bevor er hierher in die Stadt geschickt wurde, im Kriegsgefangenlager Sandbostel bei Bremervörde interniert war. Es ist wahrscheinlich, dass er dort nur wenige Tage war, und tatsächlich bestätigt ein Dokument, das ich gefunden habe, seine Anwesenheit im Lager X B Sandbostel, wo er von einem Menschen mit einem Vor- und Nachnamen traurigerweise zu einer anonymen Nummer wurde: 200.663. In diesen langen Kriegsjahren musste sich die deutsche Wirtschaft dem Mangel an Arbeitskräften stellen: warum also nicht die Tausende von italienischen Gefangenen ausnutzen, die nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 gefangen genommen wurden?

Mein Vater war einer der ca. 15.000 italienischen Soldaten, die nach Hamburg kamen, um diesen Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. Aber das wichtigste und interessanteste Dokument, das es mir erlaubt hat, etwas über den genauen Ort zu erfahren, an dem mein Vater die Monate seiner Internierung verbrachte, wurde mir von Herrn Holger Artus per E-Mail zugesandt und während meines ersten Besuchs an diesem Ort zeigte mir Frau Antonia Capito von der Stiftung Wasserkunst Elbinsel Kaltehofe das Original. Es ist ein „Personalbuch“, von dem lange nicht bekannt war, dass es existierte, und das auch eine Liste mit 73 Namen enthält: bei der Nummer 26 findet sich der meines Vaters.

Was für meine Nachforschungen jedoch am interessantesten ist, ist das, was auf der ersten Seite steht: Lager Kaltehofe. Der Ort, an dem mein Vater interniert war, ist nun gefunden worden. Dort, lebte mein Vater 20 Monate lang und verrichtete die Arbeit des „Sandwechselns“, wie er am 30. Oktober 1943 schrieb: „ich bin in die Unterkunft zurückgekehrt, nachdem ich eine üppige Portion Gemüsesuppe verzehrt hatte, die der Arbeitgeber uns Arbeitern in seinem Trinkwasserfilterunternehmen für die Stadt Hamburg ausgab.“……. “ und wieder am 1. November 1943: „Vor Kurzem führten wir neue Arbeiten durch, jedoch stets für die Wasserwerke, es handelt sich darum, den Sand der Filterbecken auszutauschen..“ Jetzt machen diese Aufzeichnungen meines Vaters Sinn und haben eine Erklärung. Und ich habe endlich die vielen Zweifel beseitigt, die ich beim Abschreiben des Tagebuchs hatte, und ich muss sagen, dass die Jahre, die ich mit solcher Entschlossenheit und Leidenschaft in diese schwierige Forschungsarbeit investiert habe, mir die Türen zu einer Welt geöffnet haben, die ich nicht kannte -und die leider auch heute nur wenige Menschen kennen- und sie haben mich so viele hilfreiche, großzügige und wunderbare Menschen kennenlernen lassen.

Abschließend wurde ich gebeten, einige Passagen aus dem Tagebuch auszuwählen, die für mich von Bedeutung sind, die mich als Sohn emotional erschüttert haben. 

Nun, ein Thema, das mein Vater täglich behandelte, war der Hunger. Unter den vielen Leiden und Entbehrungen, die die Gefangenen ertragen mussten, war die aufreibende und menschenunwürdige Suche nach Nahrung tatsächlich das, was ihr Leben am allermeisten belastete. Hören wir, was mein Vater darüber schrieb:

14. November 1943:

 „Am Sonntag, an dem es einem etwas besser gehen sollte, so wie gewöhnlich bei uns zu Hause, ist der Hunger schlimmer als an Werktagen. Ich fasse daher kurz zusammen, dass der Hunger heute schrecklich war. Wie soll ein Mensch mit zehn Kartoffeln, einem kleinen Blechnapf Brühe, einem Stück Brot und einem Löffel Marmelade leben? Es ist besser, nicht darüber zu sprechen, aber dies sind die Themen des Tages: das, was jeder von uns Hungernden morgen bei der Rückkehr tun wird, das, was uns sättigen und uns den Hunger stillen wird, der uns hässlich macht, der uns weder Ruhe noch Frieden gibt, und mit diesem Hunger regelmäßig arbeiten, trotz der nördlichen Kälte.“

Inmitten von so viel Leid, so viel Hass, so viel Egoismus gelingt es denjenigen, die über eine gute moralische Erziehung und einen großen spirituellen Reichtum verfügen, Momente der Gelassenheit und des Friedens zu finden, indem sie in ihren schönsten Erinnerungen wie denjenigen, die wir gleich hören werden, stöbern:

Samstag, 1. Januar 1944:

„Auch der erste Tag des Jahres verlief, wie Weihnachten, recht gut. […] Am Mittag verzehrte ich das Wenige an Kartoffeln und Brühe und einen Teil des Brotes, das ich mir an dem Tischchen besorgt hatte, das wir mit den Freunden zusammen mit den Rationen, die sie uns gegeben hatten, für diesen und die folgenden Tage rasch hergerichtet hatten. Es herrscht nun die übliche Einigkeit, die Gespräche sind dieselben, wie auch sonst die Themen gleich bleiben. Das Zuhause, die weit entfernte Familie, die Heimat. […] Wird 1944 das Jahr der Entscheidung sein? Außer dass mich dieser Tag an viele Dinge erinnerte, hat er mich vor allem an den 22. Geburtstag der Verlobten erinnert. […] Letztes Jahr konnte ich ihr wenigstens meine Gedanken und besondere Erinnerungen von einem Blumenstrauß begleitet zukommen lassen, während dieses Jahr bereits seit vier Monaten nichts als Stille herrscht. Ich denke aber immer an dich, meine Primina, ich liebe dich und denke immerzu an dich, wenn ich alleine bin.[…] Nun, liebste Primina, hör mir zu aus diesem schrecklichen Hamburg, an diesem Abend um 21.15 Uhr, bevor ich mich dem Herrn widme, um ihm für den vergangenen Tag zu danken. […] Ich werde durchhalten, und ich bin sicher, Gott gibt mir diese Gnade und gewährt mir die Freude, dich mit meinen Lieben zu umarmen.“

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit

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